Es braucht einen Klimawandel!

von Markus Schaaf

Standpunkt im Tössthaler vom 30. August 2019

«Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern, in keiner Not uns trennen und Gefahr.» Seit Schillers Drama Wilhelm Tell im Jahre 1804 zum ersten Mal aufgeführt wurde, sind die Besucher stets von Neuem fasziniert vom spürbaren Willen zur unbedingten Gemeinschaft. Selbst scheinbar übermächtige Gegner und Bedrohungen aller Art sollte es nicht gelingen, diesen Zusammenhalt aufzubrechen.

Manchmal spüre ich in mir eine Sehnsucht nach so einem Zusammenhalt in unserem Land. Denn die Realität – zumindest in der Politik – ist heute eine ganz andere. Es zählen ausschliesslich die drei «V»’s – Verunsichern, Verunglimpfen und Versprechen. Mittlerweile bedienen sich alle grossen Parteien dieser drei V’s – und vergiften damit das Klima im ganzen Land.

Mit immer grösseren Schreckensszenarien wird versucht, die Bevölkerung zu verunsichern. Einmal sind es Ströme von arbeitsscheuen Menschen aus fremden Kontinenten, die uns unseren Wohlstand wegnehmen wollen. Dann ist es der Klimawandel, der unser Land in eine glühende Einöde verändert und beim nächsten Mal sind es Superreiche, die wegziehen, wenn sie nicht tiefere Steuern erhalten.

Neben der gezielten Verunsicherung wird ebenso gezielt der politische Gegner verunglimpft. Freisinnige werden als Weichsinnige bezeichnet, Grüne und Linke als Würmer und Maden und SVP’ler gelten als Nazis und Rechtsextreme. Und wer jetzt denkt, das sei nur in der Politik so, irrt sich. Die Verunglimpfung von Andersdenkenden zieht sich heute quer durch die ganze Gesellschaft. Fleischesser gegen Vegetarier, Autofahrer gegen Zugfahrer, Stadt gegen Land, Arme gegen Reiche, traditionelle Landwirtschaft gegen Biobetriebe, … die Reihe liesse sich beliebig lange fortsetzen.

Das dritte V ist dann wieder mehrheitlich in der Politik anzutreffen, die Versprechungen. Jede Partei verspricht stets, dass sie die besseren Lösungen bereithält, wenn sie denn nur auch gewählt würde.

Die Folgen dieser Entwicklung sind offensichtlich. Wo einst der unerschütterliche Zusammenhalt beschworen wurde, herrscht heute Misstrauen, Aggression und unversöhnlicher Streit. Geht es unserem Land deshalb besser? Ganz sicher nicht! Bei grossen Themen wie Kostenentwicklung im Gesundheitswesen, Entwicklung einer Energiestrategie oder Finanzierung der Sozialwerke treten wir seit Jahren an Ort, tragfähige Lösungen scheinen unmöglich.

Doch wie kann dieses vergiftete Klima verbessert werden? Auch hier fallen mir spontan drei V’s ein: Verantwortung, Verständnis und Versöhnung. Wer verantwortlich handelt, achtet besonders darauf, welche Auswirkungen die eigenen Entscheidungen auf die Umwelt und die kommenden Generationen haben. Ich bin überzeugt, mit diesem verantwortungsvollen Blick wären viele Fragen rasch beantwortet.

Beim nächsten V – Verständnis braucht es die Einsicht, dass man in fast allen Fragen und Herausforderungen unterschiedlicher Meinung sein kann – und damit nicht komplett falsch liegt. Jeder Mensch hat seine Biographie und sein Wertesystem, die jeweils die eigenen Ansichten prägen. Wer bereit ist, andere Meinungen mit Verständnis und Respekt zu begegnen, wird entdecken, dass Vielfalt durchaus bereichernd und wertvoll ist. Es braucht gerade im politischen Diskurs immer wieder Achtsamkeit, andere Meinungen anzuhören, alle Argumente zu prüfen und damit auch die eigene Haltung zu überdenken. So wurden in der Vergangenheit erfolgreich tragfähige Lösungen möglich, die dem Gemeinwohl dienten. Weshalb soll das heute nicht mehr möglich sein?

Der Begriff «Versöhnung» wird meistens in der Theologie verwendet. Aber auch in Gesellschaft und Politik wird Versöhnung als ein möglicher Bestandteil einer Vergangenheitsbewältigung und Konfliktregelung eingesetzt. So wurden zahlreiche Wahrheits- und Versöhnungskommissionen gegründet. Versöhnung braucht es da, wo durch Streit und Verunglimpfung so grosse Gräben aufgerissen wurden, dass eine konstruktive Zusammenarbeit nicht mehr möglich scheint. Es ist gut und wichtig, wenn auch im politischen Geschehen viel mehr Versöhnung gelebt und gezeigt wird. Wer heute einen Schritt auf seine Gegner zugeht und ihm die Hand reicht, gilt als weich und nachgiebig. Dabei sind gerade Grossmut und die Bereitschaft zur Versöhnung die Kennzeichen von wirklich herausragenden Persönlichkeiten.

Ein Klimawandel im gegenseitigen Umgang ist dringend nötig. Aber ist er möglich – oder bleibt er ein frommer Wunsch, fern von jeder Realität? So ganz habe ich die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Die Präambel unserer Bundesverfassung ist für mich der ideale Ausgangspunkt, bei dem sich die gesamte Bevölkerung einig sein müsste. Zugegeben, die Worte sind herausfordernd, aber zugleich auch mutig und geben eine Richtung vor, die uns alle wieder näher zusammenrücken lässt:

«Das Schweizervolk und die Kantone,
in der Verantwortung gegenüber der Schöpfung, im Bestreben, den Bund zu erneuern, um Freiheit und Demokratie, Unabhängigkeit und Frieden in Solidarität und Offenheit gegenüber der Welt zu stärken,
im Willen, in gegenseitiger Rücksichtnahme und Achtung ihre Vielfalt in der Einheit zu leben,
im Bewusstsein der gemeinsamen Errungenschaften und der Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen,
gewiss, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht, und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen, geben sich folgende Verfassung…»